Elf Gramm für Anna

Ein Detektivspiel
von Klaus Trapp

»Unglaublich, unfaßbar«, brabbelte Oberkommissar A.P. Kaltspur, noch sichtlich ergriffen von dem Anblick, auf den er seit über 10 Jahren gewartet hatte und der ihn nun so schmerzlich überraschte, denn sein Gegenüber, der baumstarke Massenmörder P.A. Lustpark, lag tot am Boden.

»Er sieht so friedlich aus. Wie ganz normal gestorben«, bemerkte Hauptassistent U. Klapprats unpassend.

»Das Bild trügt«, entgegnete A.P. Kaltspur, und tatsächlich mußte die Situation den großen Kenner der Unterwelt arg befremden.

*

»War sonst noch jemand im Lokal?« fragte der Detektiv die Wirtin Karla Stupp, eine alte Bekannte aus seiner Zeit als Streifenpolizist.

»Ach nein, um diese Zeit ist nie etwas los. Ich wollte ihm gerade das Dessert bringen. Tja, und wie ich die Türe aufmache, also er wollte partout im Hinterstübchen essen, da seh' ich nur noch, wie er mausetot auf der Erde liegt. Nicht einmal aufgegessen hat er. Na und ich hab' gleich kapiert, was los ist, und flugs unsere Polizei alarmiert!«

»Sehr freundlich, sehr aufmerksam!«

»Ist Ihnen sonst noch etwas aufgefallen, irgendeine Kleinigkeit? Vielleicht ein pikantes Detail?« mischte sich Assistent U. Klapprats ein.

»Nein, gar nichts. Ich war wohl zwischendurch ein paar Minütchen in der Küche. Wegen des Desserts, verstehen Sie. Das hatte er doch besonders gerne. Also er kam seit etwa einer Woche jeden Tag zum Essen, immer um vier, immer pünktlich und immer allein. Er hat auch jedesmal das gleiche bestellt.«

»So? Was denn?« fragte der Kommissar.

»Lappskraut.«

»Das kenne ich nicht.«

»Das solltest du aber mal probieren, A.P.! Schmeckt prima.«

Der Kommissar zuckte leicht zusammen, als sie ihn so vertraulich anredete, machte aber keinerlei Anstalten, ihr dies zu untersagen.

»Warte mal«, fuhr sie fort, »etwas fällt mir gerade auf. Wenn das hier wirklich P.A. Lustpark ist, dann haben seine Vornamen die gleichen Initialen wie deine - nur umgekehrt.«

»Jetzt reicht's - verzieh' dich!« schnauzte sie der sonst so beherrschte A.P. Kaltspur an und rief ihr noch mit triumphierendem Grinsen nach: »Wenn du wüßtest, was P.A. wirklich bedeutet!«

Dann wandte er sich an seinen Assistenten. »Na, haben Sie inzwischen etwas brauchbares gefunden?«

»Tja, einiges. Es ist nicht gerade sehr aufschlußreich, eher verwirrend, möchte ich meinen. In seiner Brieftasche befinden sich 9072 D-Mark in kleinen, zerknitterten Scheinen und einer Münze. Einen Raubüberfall möchte ich aufgrund dieses Fundes vorläufig ausschließen.«

»Vorläufig! Sehr feinsinnig. Weiter.«

»Dann ist da noch ein höchst eigentümlicher Brief, adressiert an einen gewissen Paul P. Stark, Kurpalast P, eine seltsame Adresse. Der Text des Briefes besteht aus einem einzigen, merkwürdigen Satz. Doch lesen Sie selbst.«

»Merkwürdig, dieser Satz. Eine seltsame Adresse. Was für ein höchst eigentümlicher Brief. Elf Gramm für Anna«, grübelte der Kommissar geistesabwesend und spürte zugleich die unmittelbare Nähe der Lösung des Rätsels um P.A. Lustpark.

»Und hier ist die Visitenkarte eines gewissen Raul K. Papst, Prokurist bei der Prakta-Plus KG. Das ist alles.«

»So, so, der Papst, jetzt krieg ich den auch zu fassen«, murmelte A.P. Kaltspur und spielte verträumt mit der Visitenkarte zwischen seinen Fingern.

»Times Roman kursiv, ausgesprochen plump und so langweilig. Klapprats, das ist nicht alles. Holen Sie mir schleunigst die Frau Wirtin zurück. Sie weiß weit mehr, als sie jemals zugeben wird. Und dann, Herr Hauptassistent, können Sie endlich wieder ein erstklassiges Verhör miterleben.«

*

Karla Stupp, die schöne Wirtin, befand sich bald darauf in einer äußerst delikaten Lage, fest umklammert von der Gegenwart zweier beinharter Polizeispezialisten, einem älteren, dem Oberkommissar A.P. Kaltspur, und einem jüngeren, dem Hauptassistenten U. Klapprats, und mit den Worten »Setz' dich, Karla!« eröffnete der ältere die Examination.

»Welche Berührungspunkte bestanden zwischen dem Verstorbenen und dir, sowohl in jüngerer als auch in zurückliegender Zeit?«

»Er war mein Geliebter. Mein Geliebter war er in jüngerer Zeit. In weiter zurückliegender Zeit war er mein Mitschüler. Dazwischen war er - in chronologischer Reihenfolge - 1. mein Nachhilfeschüler, und zwar von der Untertertia bis zur Sekundarstufe II, 2. mein Fahrlehrer in der Zeit meiner Führerscheinprüfung, 3. mein Untermieter in der Lu-Kappa-Str. 11 während der Großen Koalition und schließlich 4. mein Dozent in einem Töpferkurs an der hiesigen Volkshochschule während eines Semesters, dessen Jahreszahl eine Primzahl war.«

»Die Verhältnisse zwischen dem baumstarken P.A. Lustpark und dir waren also vornehmlich die zwischen einem Lehrenden und einem Lernenden in jeweils alternierenden Rollen?«

»Ja, im wesentlichen.«

»Was ist Lappskraut?«

»Eine Spezialität des Hauses. Lappskraut wird aus einem gewöhnlichen, in Kräuteressig eingeweichten Kohlkopf hergestellt. Der eingeweichte Kohlkopf wird in Burgunder genügend lange gesudet, damit er recht lappig wird. Es ist vermutlich eine vitaminarme Speise, der jedoch eine blutbildende Wirkung nachgesagt wird. Lappskraut kann mit verschiedenen Beilagen serviert werden.«

»Mit welchen zum Beispiel?«

»Mit fettem Speck, mit Spiegeleiern oder mit Erbspüree. Auf Wunsch wird es in diesem Hause auch mit Schweizer Käse überbacken serviert. Dann ist es eigentlich kein Lappskraut mehr, aber so wird es gerne von den Gästen gewählt.«

»Das Dessert?«

»Krupp-Salat. Ein italienisches Rezept vom alten Krupp. Familienerbe. Ich kann hierzu unter keinen Umständen irgendwelche Angaben machen. Basta!«

»Welche Kenntnis besitzen Sie von einer gewissen Anna? In welcher Beziehung stand diese Person zu P.A. Lustpark und in welcher zu Ihnen? Wie lautet der richtige Name?«

»Anna. Ihr richtiger Name lautet Anna. Ihr Nachname lautet gleichfalls Anna oder Rosa oder Blum oder Blume oder so ähnlich. Sie war die Amme des verstorbenen baumstarken P.A. Lustpark und sonst nichts. Außerdem hat sie einen roten Vogel.«

»Resümieren Sie, U. Klapprats!«

»Ich resümiere: Die Zeugin, die bildschöne Wirtin Karla Stupp, stand im wesentlichen in nahezu permanentem Abhängigkeitsverhältnis zu dem Opfer oder umgekehrt. Die Zeugin hat dem Opfer die letzte Mahlzeit zubereitet.«

»Oh, gigantischer Scharfsinn! Welche Konklusion, unter Irrtumsvorbehalt, ziehen Sie aus dem soeben Resümierten?«

»Die Zeugin war dem Opfer, welches zuletzt ihr Geliebter war, sexuell hörig, hochgradig, oder umgekehrt er ihr. Korollar: Sie hat ihn geopfert - und zwar mit dem Dessert.«

»Welche Beweismethode wendet der ältere, beinharte Polizist gegen mich, um diese hanebüchene These zu erhärten?«

»Die aristotelische einerseits und die dialektische andererseits. Beide führen zu dem gleichen Ergebnis.«

»Zu welchem Ergebnis?«

»Das ist unerheblich.«

»Was folgt aus der Tatsache, daß beide Methoden zum gleichen Ergebnis führen - unabhängig vom Ergebnis selbst?«

»Das Ergebnis ist eine Antinomie. Das Rätsel ist unlösbar.«

»Ach ja.«

»Wer kann uns helfen?«

»Einzig der Autor. Er muß eingreifen.«

»Das hat er namentlich längst getan.«

Mit diesen Worten fiel es den Polizisten und der Wirtin wie Schuppen von den Augen, der Alpspuk löste sich, die Polizisten umarmten dankbar die Wirtin und einander. Jetzt lag alles klar auf der Hand. Und Anna, ja Anna nahm allesamt gütig an ihre unendliche Brust.

Köln, im Juni 1982

© Klaus Trapp

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